Die Maus
Nachfolgend ein Auszug aus dem unveröffentlichten Roman "Eine Reise mit Jette". Dieser Teil des in vielen Punkten biographischen Manuskriptes beschäftigt sich mit der Entstehung eines meiner ersten Schulaufsätze. Der trug den Titel "Die Maus" und ist meiner Erinnerung nach die erste Situation, in der ich die Faszination des Schreibens und - vor allem - des Erfindens von Geschichten gespürt habe. Und - mit dem Vortragen des Aufsatzes vor der gespannt lauschenden Klasse im Jahr 1967 habe ich im Alter von acht Jahren meine erste öffentliche Lesung abgehalten.
Auszug aus "Eine Reise mit Jette":
Einige Worte zur Ausgangslage: Der Zufall führt sie auf einer Autofahrt von Hamburg nach München als Zweckgemeinschaft zusammen: den sechzigjährigen Autor Richard Bluhm und die arbeitslose Schauspielerin Jette. Gerade hat ihn die junge Frau danach gefragt, was für Bücher er schriebe. Ihr Interesse weckt bei ihm die Erinnerung an ein Schlüsselerlebnis.
Zwei
Die Geburt als Autor. Der erste Schritt, von dem Mao Tse Tung sagte, dass mit ihm jeder Weg begänne, vollzog sich 1967 in der Grundschule Brödermannsweg im Hamburger
Stadtteil Groß Borstel. Richards damalige Klassenlehrerin, eine sanftmütige junge Pädagogin mit stroh-blonder Kurzhaarfrisur, Augen wie braunen Murmeln, einer spitzen Nase, spitzem Kinn, und der
ausgeprägten Vorliebe für Rollkragenpullover, Perlenketten und karierte Röcke, bat die Kinder während einer Deutschstunde um einen Aufsatz. Thema: Etwas Aufregendes, das ihnen in letzter Zeit
zugestoßen wäre.
Da hatte der junge Richard etwas Passendes zu bieten, das sich erst wenige Tage zuvor ereignet hatte.
Die Antwort auf Jettes Frage nach der Art seiner Bücher war für Bluhm mit der Frage verbunden, warum er schrieb.
Ein Autor, dozierte er, könne auf dem Papier eine neue Welt schaffen. Oder die bestehende verändern. Oder besser machen? Oder sie zerstören? Selbst diese augenblickliche Autofahrt ließe sich
literarisch in jede x-beliebige Richtung lenken.
"In welche zum Beispiel?", fragt Jette dazwischen, da hat Bluhm bereits wortgewaltig losgelegt, von der angekündigten Geschichte über den ersten Schulaufsatz noch weit entfernt. Jettes Fragen sind
wie rote Ampeln oder ausscherende Lieferwagen.
Aus den Sphären, in die er gerade aufsteigen wollte, findet er nur mühsam wieder zurück in den Polo.
Und erklärt der jungen Frau, dass sich selbst aus ihrer trivialen Situation mit dem Auto auf dem Weg nach München eine fesselnde Story machen ließe. Komödie. Drama. Ein Thriller, oder sogar "…ein
Kinderbuch?", schlägt Jette mit unschuldigem Lächeln vor.
Wenn’s sein muss. Eine bunte Geschichte mit dem ollen Herrn Bluhm und der lustigen Jette.
Die lustige Jette schafft es immer wieder, in jeder wohlklingenden Melodie schräge Zwischentöne unterzubringen. Bluhm kennt sie nicht gut genug, sonst wüsste er vielleicht, ob das
unabsichtlich geschieht oder einem anarchischen Trieb entspringt.
"Was war das denn nun für ein Aufsatz?", erinnert sie ihn.
Richtig. Der Aufsatz!
"Es war einmal …", beginnt Herr Bluhm mit einer Märchenonkel-Stimme, die er sich für Lesungen antrainiert und dann wieder
verworfen hatte. Sie klänge unnatürlich, hatte seine Frau Christine bemängelt. Wie eine schlechte Version von Hans Paetsch.
"Wer ist Hans Paetsch?", will Jette erstaunt wissen.
Sie ist so jung!
Sonst würde sie diesen Erzähler kennen, dessen markante Stimme nahezu alle Märchen- und Abenteuerhörbücher auf Platte gesprochen hat - früher. Viele Missverständnisse basieren auf dem Verlust
zeitgenössischer Details.
Zurück zum Es war einmal.
Herr Bluhms Eltern lebten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit ihm und seinen beiden Schwestern Ruth und Nicole im Hamburger Stadtteil Groß Borstel in einer
Sozialwohnung des kommunalen Wohnungsanbieter SAGA. In den Fünfzigerjahren waren auf einen Schlag viele Siedlungen in diesem Teil Groß Borstels entstanden. Die Bluhms bewohnten eine winzige und
bescheidene Behausung im Beerboomstücken, für eine fünfköpfige Familie ziemlich beengt. Es handelte sich um Reihenhäuser aus nüchternem Backstein mit jeweils zwei Wohneinheiten. Bluhms wohnten oben,
ebenerdig unter ihnen lebte eine Familie mit zwei älteren Kindern, eine weitere Treppe tiefer ging’s in den Gemeinschaftskeller. Und dort, in einem ganz am Ende liegenden Raum, richtete Vater Bluhm
für den Sohn wegen der räumlichen Not nach der Geburt der jüngeren Tochter Nicole ab 1966 ein eigenes Zimmer ein, so gut es ging. Einigermaßen wohnlich, mit getünchten Wänden, einem Fliegengitter vor
dem auf ein Siel gerichteten Kellerfenster, mit Möbeln, die von niemandem mehr gebraucht wurden, Stehlampe, Schlafsofa, einem Tisch mit zwei Stühlen, einer stattlichen Musiktruhe mit Radio und einem
kleinen, aber effektiven elektrischen Heizöfchen für kalte Tage, das nach längerem Betrieb allerdings unheilvoll zu knacken, zu knistern und zu stinken begann, als stünde eine Explosion bevor. In
solchen Momenten knipste Richard auf Anraten des Vaters das entkräftete Elektrogerät aus, um es nach einer Pause des Verschnaufens auf der einen und des zunehmenden Fröstelns auf der anderen Seite
erneut in Gang zu setzen. Denn der Raum konnte während der Herbst und Wintermonate merklich auskühlen, war feucht und roch ganzjährig leicht muffig. Keller blieb Keller.
Gelegentlich – weniger gelegentlich, als es Bluhm lieb war – mischte sich trotz Fliegengitter vor dem Fenster während des Spielen auf dem Teppichboden die eine oder andere Kellerassel unter seine
aufgestellten Cowboy- und Indianerfiguren, oder das rastlose Ungeziefer kam seinen Matchbox-Autos in die Quere, wie in einem Monster-Film von Jack Arnold. Noch häufiger trippelten
Spinnen durch das Zimmer, kleine dicke, große dünne, auch mal große dicke und erschreckend große und unheimlich dicke. Überhaupt, das gemeine Kellergetier war hier schon immer ansässig gewesen, Bluhm
als Neuling musste sich wohl oder übel damit arrangieren.
An einem Abend, während er sich im Schein einer Taschenlampe gerade von Astrid Lindgren aus seinem Kellerverließ auf die Dächer
Stockholms entführen lassen wollte, schreckte ihn in beunruhigender Nähe ein furchterregendes Geräusch auf. Im zitternden Schein der Taschenlampe, aus dem vor Angst geweiteten Augenwinkel, bemerkte
er ein schattenhaftes, geradezu niederträchtiges Huschen, das in seiner Fantasie rasend schnell zu abscheulicher Größe mutierte. Für die Art Spinne, die er hier bisher entdeckt und meist zermanscht
hatte, viel zu groß und viel zu hörbar! Sollte es sich am Ende "nur" um eine Spinne handeln, dann mit monströsen Ausmaßen. Tarantula möglicherweise. Egal, was es war und wie groß, es raste
hörbar irrsinnig durch das Zimmer und durch Bluhms Fantasie und versetzte ihn sofortig in pure Panik. Er floh aus dem Bett, aus dem Raum, aus dem Keller, überließ dem Monster das
Astrid-Lindgren-Buch und die auf den Boden geworfene Taschenlampe, hetzte die Stufen durch Keller und Treppenhaus bis zur Wohnung der Eltern hinauf, um dort abwechselnd Sturm zu klingeln und
gegen die Wohnungstür zu hämmern, als säßen ihm sämtliche Horrorwesen seiner regelmäßigen Albträume im Nacken. Und würgte dann in hyperventilierender Atemlosigkeit dem Vater Wortbrocken entgegen.
Zusammenhangloses Zeug. In sein Zimmer sei King Kong eingedrungen oder Godzilla oder beide, irgendwas in der Größenordnung, er hatte keine Ahnung, welche Kreatur letztlich das
Fliegengitter überwunden hatte. Aber sie war gekommen, ihn zu holen. Habe böse geknurrt, davon war er inzwischen überzeugt, die Reißzähne gefletscht und versucht, ihn mit haarigen Klauen zu packen,
um ihn in eine grässliche Dunkelheit zu zerren, außerhalb des Scheins der Taschenlampe und jenseits jeglicher Vorstellungskraft, selbst der kleiner Jungen.
"In deinem Zimmer ist was?", erkundigte sich der Vater beinahe belustigt. Aber für die Bilder, die in Richards Kopf entfesselt worden waren, reichte der kindliche Wortschatz nicht aus. Die
Bedrohung war einfach … gewaltig.
Also marschierte der furchtlose Vater entschlossen in den Keller. Dem Sohn blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, trotz des kurz zuvor gefassten Entschlusses, die Räume da unten für
den Rest seines Lebens nicht mehr zu betreten. Aber an der Seite des unbesiegbaren Papas … riskierte er eine letzte Ausnahme.
Das Monster war eine Maus, die der Vater relativ schnell aufscheuchte, hin- und herjagte, schließlich in die Enge trieb, um sie mit seinem Hausschuh blitzartig zu erschlagen. Am Schwanz hochhaltend
präsentierte der Vater den toten kleinen Störenfried, damit sich der Sohn persönlich davon überzeugen konnte, dass alles vorbei war – vor allen Dingen für die Maus. Anschließend trug er die kleine
schlaffe Leiche nach oben, brachte sie … wohin auch immer. Und Richard schlief später mit dem betrüblichen Gedanken ein, an der Ermordung einer harmlosen Kreatur mitschuldig geworden zu sein, die er,
hätte sie sich ihm friedlich genährt, vielleicht sogar hätte dressieren können. Eine Maus als erstes Haustier, das Spinnen und Asseln jagte, während
er Comics oder Schneider-Bücher las. Die Chance einer großartigen Freundschaft war vertan.
Als sie dann in der Schule als Aufsatzthema ein aufregendes Erlebnis schildern sollten, bot sich genau dieser Stoff an. Vom unheimlichen Beginn des ersten Geräusches bis zum blutigen Finale. Das
Schicksal der Maus, deren Tod der kleine Bluhm inzwischen bedauerte. Allein der Anblick, wie sie leblos und endgültig erledigt an dem zwischen dem väterlichen Daumen und Zeigefinger eingeklemmten
Schwanz herabbaumelte, hatte sich tief in das Gedächtnis des Jungen eingebrannt - und in sein Gewissen. Schon deshalb musste er sich das Erlebnis von der Seele schreiben.
Hier unterbricht Herr Bluhm die Erinnerungen. Jette und er, sie passieren gerade die Elbbrücken, das erfüllt ihn mit der Hoffnung, sie könnten von jetzt an schneller
vorankommen.
"Hallo?", meldet sich Jette. "Ist Ihre Geschichte von der Maus zu Ende? War das schon alles? Dann versteh ich die Pointe nicht."
Herr Bluhm muss sich sammeln. Der Rückblick hat ihn aufgewühlt.
"Bitte was?" Ein ratloser Blick in Richtung Jette.
"Sie waren ein kleiner Angsthase. Und Ihr Vater hat eine Maus gekillt. Deshalb beschlossen Sie, Bücher zu schreiben? Echt jetzt?"
Nein, das war natürlich noch nicht das Ende der Story. Also weiter: Schwungvoll und an keiner Stelle stockend trieb der achtjährige Richard den Pelikan-Füller über das linierte Papier des
Aufsatzheftes. Er konnte sich nicht erinnern, wann er je zuvor etwas so entschlossen und überzeugt geschrieben hatte, die verschwitzte Hand war zu langsam für die Gedanken. Verbunden mit dem Gefühl,
sich in einer kreativen Explosion befreien zu müssen, ein tiefes Ausatmen kurz vor dem Ersticken.
Der spitznasigen Lehrerin war das eine glatte Eins wert. Eine große und entschlossene rote Eins, viel schöner als sämtliche Einsen, die Richard zuvor errungen hatte. Darüber hinaus entschied die
Lehrerin, weil sie seinen Aufsatz so außergewöhnlich fand, dass der sonst eher unauffällige Junge dieses Meisterwerk als Belohnung in der nächsten Deutschstunde der gesamten Klasse vortragen dürfe.
Aber auch musste! Bis dahin sollte er fleißig Vorlesen üben, empfahl sie ihm lächelnd. Eine gut vorgelesene Geschichte würde die Klasse besonders beeindrucken.
Angesichts dieser Herausforderung schrumpfte die Freude über seinen Einser-Aufsatz beträchtlich. Wandelte sich am Ende in ein eher gegenteiliges Gefühl! Zum einen empfand der Junge es grundsätzlich
als wenig erstrebenswert, der Klasse etwas vortragen zu müssen – egal was! Schon allein, weil die Erziehung der Eltern darauf ausgerichtet war, ihm das Gefühl zu vermitteln, im Mittelpunkt nichts zu
suchen zu haben. Außerdem passte ihm unter den veränderten Umständen die Rolle der vor Angst schlotternden Heulsuse nicht mehr, die er sich in seinem Aufsatz wahrheitsgemäß zugeschrieben hatte. Und
seinen
Vater wollte er nicht als Mäusemörder bloßstellen. Den Rest der Schulzeit hätte er dann vermutlich den Ruf weg, der jämmerliche Nachkomme eines Mausmörders zu sein. Sorry, aber wo genau war da die
Belohnung?
"Ich verstehe", ruft Jette dazwischen. Hat das Bluhm’sche Dilemma sofort erfasst. Ungeschminkte Wahrheit ist nicht immer hörenswert. "Sie werden das der Lehrerin erklärt haben, oder?"
Mit erhobener Hand bringt Herr Bluhm Jette zum Schweigen. Das wäre eine dürftige Pointe, nicht wahr? Er schüttelt den Kopf, schätzt es sowieso nicht, wenn ihm jemand voreilig in den sorgfältig
aufgebauten Spannungsbogen hineingrätscht, um dann auch noch die falschen Rückschlüsse zu ziehen. Wie Leute, die während einer Sinfonie klatschen.
"Ich war noch nie in einer Sinfonie", erklärt Jette.
"Darf ich fortfahren?", entgegnet Bluhm pikiert. Jette nickt.
Er braucht eine Weile, um den Faden wieder aufzunehmen.
Als Kind, erklärt er, sei er unfähig gewesen, einer Lehrerin derartige Zusammenhänge darstellen zu können. Oder Bedenken und Ängste zu formulieren. Die meisten Kinder wurden damals nicht zum
unbekümmerten Plaudern über ihre Befindlichkeiten ermuntert. "Bei mir lief vieles eher instinktiv", sagt Herr Bluhm.
"Na gut. Und was haben Sie dann eher instinktiv gemacht?"
"Wenn Sie mich einfach nur erzählen ließen, käme ich ganz von allein auf den Punkt."
"Alles klar, Chef! Sie reden, ich fahre. Schon kapiert."
Am Ende habe es aus dieser Klemme nur einen Ausweg gegeben: Er habe, so erklärt Herr Bluhm mit verklärtem Blick, den Aufsatz zuhause einfach nochmal neu verfasst. Umgeschrieben. Habe statt der wahren
Geschichte etwas anderes erzählt. Etwas Besseres als die Wahrheit. Etwas, das schöner geklungen habe. In der neuen Geschichte habe sich Richard in einen klugen und mutigen Jungen verwandelt, in eine
beinahe fiktive Figur. Diese habe Geräusche gehört. Die Maus entdeckt. Nicht gewusst, wie sie die allein habe fangen sollen. Also sei er die Treppen zur Wohnung der Eltern hinaufgestiegen und habe
den Vater um Hilfe gebeten. "Und weil der Vater alles konnte, fing er die Maus, mit List und Geschick, vor allen Dingen lebend. Gemeinsam brachten Vater und Sohn das verängstigte Tier dann
nach oben und ließen es vor der Haustür laufen. Glücklich tippelte die Maus der Freiheit entgegen, und bis zum heutigen Tag halte ich als Ich-Erzähler an der Überzeugung fest, dass sie sich noch ein
letztes Mal für einen dankbaren Blick kurz zu meinem Vater und mir umdrehte, bevor sie endgültig in der Nacht verschwand."
"Oh, Mann, hören Sie bloß auf, das ist ja nicht zum Aushalten!", ächzt Jette belustigt. "Vielleicht hat die kleine Maus auch noch mit dem Pfötchen gewinkt, ein Bündel am Stöckchen über der
Schulter."
Haha, sehr komisch. An solchen ignoranten Reaktionen zerbricht so ziemlich jede gut erzählte Begebenheit. Okay, etwas weniger Pathos könnte nicht schaden.
"Meine Mitschüler haben damals applaudiert", erinnert sich Bluhm trotzig.
"Mitschüler*innen", verbessert ihn Jette, bester Laune.
Bluhm muss grinsen. Ja, die Mädchen natürlich auch – die ganz besonders! Eigentlich sogar vorrangig. Der Anblick der begeistert klatschenden Anja Kreutzer kommt ihm in den Sinn. In sie war er so
unendlich verknallt, dass er ihr am liebsten täglich eine selbst verfasste Geschichte vorgelesen hätte, damit ihr Applaus und ihre Begeisterung für seine Worte nie wieder verstummten. Und eine
Erkenntnis stand auch fest: Der Mittelpunkt war ein faszinierender Ort, ganz egal, wie seine Eltern darüber dachten.
"Und das war dann der Start Ihrer Karriere als erfolgreicher Autor von Kinderbüchern, stimmt’s?", vermutet Jette.
Das klingt schon wieder zu platt, wird der Tiefgründigkeit seiner Geschichte nicht gerecht. Und stimmt auch nicht.
Da verebbt der Applaus der Mitschülerinnen in seiner Erinnerung, und das Gesicht Anja Kreutzers verblasst, der ersten aller großen Lieben.
Herr Bluhm spielt mit den Gedanken, das Gespräch über den Startschuss in das Leben als Autor an dieser Stelle abzubrechen. Ist alles nicht so wichtig. Letztlich ist es ihm gleichgültig, warum diese
Frau Death Metal oder Roland Kaiser hört, und ihr wird es mindestens ebenso gleichgültig sein, wann ihn die Ur-Muse in Gestalt einer Maus erschien, warum er schreibt, was
er schreibt und welche richtungsweisende Entdeckung er gemacht hat, nachdem er die neue Version seines Aufsatzes über die Maus geschrieben und vorgelesen hatte. In der er ein Held wurde. In der sein
Vater keinen Mord beging. In der die Maus überlebte.
Die Lehrerin hatte ihn nach dieser ersten gefeierten Lesung und dem Ende der Stunde noch einmal zu sich beordert und mit ernster Miene und eindringlichem Blick dazu befragt, warum er den Aufsatz
umgeschrieben hätte. All die frisch gewonnenen aber unaussprechlichen Einsichten, die damals in Richards verwirrtem Kindskopf glitzerten, reichten mangels passender Ausdrucksmöglichkeiten nur für ein
Achselzucken, das eine kaum hörbare Antwort begleitete. Ein wenig ängstlich, weil der Junge inzwischen befürchtete, sich durch den veränderten Text die strahlend schönste Eins seines Lebens
vermasselt zu haben.
Verunsichert flüsterte er: "Ich fand es so besser."
Die Lehrerin, immer noch mit undurchsichtiger Miene, ließ sich mit ausgestreckter Hand sein Heft reichen, das an seinen verschwitzten Fingern beinahe kleben blieb. Sah sich eine Weile an, was der
Junge neu geschrieben hatte. Warf einen letzten nachdenklichen Blick auf dessen mutlos zusammengesunkene Gestalt. Und setzte unter den neuen Aufsatz eine neue Zensur. Mit zartem Lächeln reichte sie
Bluhm das geöffnete Heft zurück, damit er einen Blick auf die Bewertung werfen konnte.
Eins Plus.
Auch ihr, versicherte die junge Pädagogin, habe der neue Aufsatz noch etwas besser gefallen. Und für ein paar Sekunden liebte er sie fast noch mehr als Anja Kreutzer.
Allerdings bereut Herr Bluhm inzwischen die Offenheit, mit der er Jette die Geschichte erzählt hat. Reaktionen von Lesern oder Zuhörerrinnen sind grundsätzlich unberechenbar.
"Keine Sorge", beruhigt ihn Jette, der sein Unbehagen nicht entgangen ist. Natürlich habe sie verstanden, worum es ging. Ein Funken Realität mit all den Farben der Fantasie vermischt. Ja, tolle
Story!
"Da haben Sie durch das Schreiben bereits als Kiddy eine besondere Tür entdeckt", meint sie feierlich.
Herr Bluhm nickt. Ja, genau, so ist es.
Jette schweigt eine Weile, und Bluhm kann ungestört darüber nachdenken, ob die Maus-Geschichte irgendwann mal den Weg in ein Buch finden sollte. Als Vermächtnis? Oder sollte er sich doch an ein
Kinderbuch wagen? Der Junge und die Maus. Von Mäusen und Menschen ist leider schon vergeben.